Sarah Bernhardt, (1864) Felix Nadar, Französische Nationalbibliothek

Ihr Antlitz ist uns zugewandt, aber sie selbst schenkt uns keine Beachtung. Nachdenklich, melancholisch und leidenschaftlich ist ihr Blick auf ein geheimnisvolles Anderswo fixiert. Sarah Bernhardt scheint hier in einer Theaterszene zu spielen, gequält von einem Liebesdrama, von einem bestimmten, finsteren und großartigen Schicksal aufgezehrt. Aber nichts davon ist der Fall. Die Schauspielerin posiert hier im Pariser Atelier von Felix Nadar, dem brilliantesten französischen Fotografen des 19. Jahrhunderts. Er ist für seine Portraits berühmter Persönlichkeiten seiner Zeit bekannt, unter anderem derjenigen von George Sand, Alexander Dumas, Victor Hugo, Auguste Rodin und Charles Beaudelaire. Mit einem heiteren Naturell versteht es Felix Nadar, die Sympathie seiner Modelle zu wecken und sie dadurch in angenehme, entspannte Stimmung zu versetzen. Es ist ihm daher möglich, sie so zu fotografieren, wie sie sind, in vertrauensvoller Einfachheit, die ihre innere Natur erkennen lässt.

Mit kaum 21 Jahren strahlt Sarah Bernhardts Gesicht hier eine innere, glühende Leidenschaft aus. Typisch für die Portraits des Fotografen ist dieses hier von einem sanften Licht von der Seite gezeichnet. Die gesamte Bildszenerie ist sämtlicher Gegenstände beraubt und auch die Schauspielerin trägt als einzigen Schmuck nur eine Kamee im Ohr. Bekleidet mit einem weiten, weißen Stoff sieht man sie an eine antike Säule gelehnt. Diese beiden Requisiten – Säule und wallendes Tuch – zeigen die Verbindung Sarah Bernhardts zur griechischen Tragödie, dem Theatergenre, dem sie sich Zeit ihres Lebens verschrieben hat.

Nadar, portrait de Sarah Bernhardt

Die symbolische Opposition dieser Requisiten ist es auch, auf der die Komposition des Bildes aufgebaut ist. Die antike Säule ist ein Gegenstand aus Stein, vertikal, hart und standhaft. Felix Nadar baut darauf das schicksalhafte Universum der griechischen Tragödie auf, mit seinen unerbittlichen Gottheiten, gefallenen Helden und unerfüllten Leidenschaften.

Auf die kalte Symmetrie der Säule trifft die Unordnung der weichen Linien und leichten Wölbungen des Faltenwurfs, der das Element der Sanftheit repräsentiert. Auf den ersten Blick könnte man darin einfach nur ein Bettlaken oder auch einen Theatervorhang erkennen, der bei dieser Gelegenheit zur Verwendung kommt. In Wirklichkeit ist es ein Burnus, ein von den Berbern in Nordafrika getragener, traditioneller Mantel. Die Berührung des männlichen Kleidungsstückes mit der Haut der Schauspielerin beflügelt unsere Phantasie und bringt mit diesem sinnlichen Porträt, das beinahe einen exotischen Duft verströmt, unsere Vorstellungen in Wallung.
Der Burnus bedeckt einen jugendlichen Körper voller Versprechen, den man sich aufgrund dessen, dass der Hals und auch ein Teil der Brust der Schauspielerin enthüllt sind, nackt denkt. Die junge Frau erscheint wie eine Blume, die gerade aufblüht und gleichzeitig gut geschützt in ihrem Schmuckkästchen verweilt. Die ungeordneten Schnüre, die man rechts sieht, sehen aus wie aufgelöste Kordeln. Ihr wirrer Aspekt erinnert an die dichte Haarpracht der Schauspielerin. Ohne jede Bändigung drückt sie einerseits Freiheit, Lebenskraft und den unbezähmbaren Charakter der Schauspielerin aus, andererseits aber auch den Kummer ihres bewegten Herzens.

Der Ausdruck ihres Blickes ist ambivalent; Jean Cocteau wird sie später „heiliges Monster“ nennen, eines Blickes wegen, der noch mehrere Jahrzehnte später Millionen von Betrachtern aus der ganzen Welt in einen Taumel versetzen wird.

Aus dem Französischen von Anita Klinglmair

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