Der Knabe mit dem Kreisel (1738), Jean Siméon Chardin

Im Jahrhundert der Aufklärung erwecken Kinder und ihre Erziehung die Aufmerksamkeit der Philosophen und der Künstler. Jean Siméon Chardin widmet ihnen mehrere Gemälde, darunter auch jenes, welches um 1738 gemalt wurde. Er ist der Erste, welcher mit einem solch ausgeprägten Scharfblick die Psychologie des Kindes und dessen Welt- bestehend aus Fantasie und Sorglosigkeit- erfasst und malt.

Der Knabe, welcher vor seinem Tisch steht, ist wie ein Mann von hohem Stand gekleidet und frisiert. Seine blasse Gesichtsfarbe hebt sich von dem relativ dunklen Hintergrund ab. Er scheint seine pflichtgemäßen Aufgaben vernachlässigt zu haben. Seine Bücher, seine Feder, sein Tintenfass und sein Blatt Papier hat er zur Seite geschoben, um  sich einer spielerischeren Tätigkeit hinzugeben. Er hat gerade seinen Kreisel (1) (Frz.: toton) in Bewegung gesetzt, der sich mit Schwung auf der Tischplatte dreht. Seine rechte Hand verharrt noch in der unerlässlichen Handhaltung der Drehbewegung.

Jean_Simeìon_ChardinAbseits jeglicher moralischen Lektion und malerischen Verklärung, liefert uns diese Szene einen direkt und natürlich eingefangenen Moment von intimer und kindlicher Atmosphäre. Ganz  gefesselt von seinem Kreisel, scheint das Kind die es umgebende Welt nicht wahrzunehmen. Eine Welt, fast so unbeweglich wie ein Stillleben, auf die Stille beschränkt, als ob der Atem angehalten werde: das zusammengerollte Blatt Papier hält inne, um nicht auf den Boden zu gleiten, ebenso der Stifthalter, um nicht ins Leere zu stürzen….  Diese Darstellung ermöglicht es, die ergreifende Unschuld des zart angedeuteten, amüsierten Gesichtsausdruckes eingehender betrachten zu können.

Lässt sich die Thematik dieses Werkes jedoch auf die Anmut jenes Lächelns reduzieren? Was verbirgt sich hinter der scheinbaren Einfachheit dieser Szene? Manch einer sieht in den Drehungen des Kreisels eine Metapher des zufälligen Charakters der Existenz. Denn als es den Anstoß für die Bewegung gibt, kennt das Kind weder den Moment, noch den Ort, an dem das Spielzeug seinen Weg beenden wird. Seine Laufbahn entgleitet jeglicher Kontrolle, sie ist unvorhersehbar. Ähnlich dem Schicksal aller Lebewesen, welches voll von unberechenbaren Unbekannten ist.

Experten haben auf diesem Bild einen moralischen Gehalt entdeckt, der auf das Dilemma zwischen Spiel und Arbeit hinweist. Vor allem sticht die innere Ruhe, die nachdenkliche Stille des Knaben ins Auge.  Jener scheint sich dermaßen auf die Drehungen des Kreisels zu konzentrieren, als würde er ein Buch lesen, als wäre er in einen Lernprozess vertieft (2). Kann man dem Spiel ebenso erzieherische Eigenschaften zuschreiben?

Eine Generation später werden einige Philosophen diese Frage mit einem „Ja“ beantworten, unter ihnen Jean-Jaques Rousseau. Ihnen zufolge ist die Erfahrung der Sinne, die das Spiel einschließt, für den Wissenserwerb und die Entwicklung eigener Gedanken verantwortlich. Eine Auffassung, die das Kind zum  Meister seiner eigenen Erziehung erhebt, und ihm nicht das Buchwissen aufzwingt, das der Gedankenwelt anderer entspringt.

(1) Der frz. Begriff „toton“ steht für einen Kreisel, der schon während der Antike bei Glücksspielen verwendet wurde.

(2) „Das Spiel der Kinder sollte als ihre wichtigste Beschäftigung aufgefasst werden“, bestätigte schon Montaigne im Zeitalter der Renaissance.

Aus dem Französischen von Katharina Schoklitsch

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